Frühsozialisten: Die soziale Frage

Frühsozialisten: Die soziale Frage
Frühsozialisten: Die soziale Frage
 
Um die Wende zum 19. Jahrhundert entstanden gerade in den wirtschaftlich fortgeschritteneren Ländern Europas gesellschaftliche Spannungen, die neue Sozialtheorien herausforderten. Der Einsatz von Maschinen vor allem in der Weberei und Spinnerei hatte die Arbeitssituation entschieden verändert. Sozialtheoretiker wie Claude Henri de Saint-Simon und andere vormarxistische Sozialisten haben auf diese Entwicklung reagiert.
 
Vor allem Saint-Simon trug mit groß angelegten Utopieentwürfen zur allgemeinen Propagierung sozialistischer Ideen bei. Seine Imaginationskraft zielte auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Erneuerungen ab, die das Glück der Menschen steigern sollten. Schon im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg schlug er als junger Offizier dem Vizekönig von Mexiko den Bau eines Kanals zwischen Atlantik und Pazifik vor. Ähnlich versuchte er später, Spanien vom Nutzen eines Kanals von Madrid zur Atlantikküste zu überzeugen. Auch von einer gewaltigen Bank zur Finanzierung ebenso gewaltiger Projekte hat Saint-Simon geträumt. Seine bemerkenswerteste Utopie allerdings galt Europa. Er forderte ein vereintes Europa mit einem gesamteuropäischen Parlament, das durch Mitwirkung der nationalen Parlamente zu bilden sei. In seinen Werken »Du système industriel« und »L'Organisateur« schildert er eine straff organisierte sozialistische Gesellschaft. Obgleich für ihn der Übergang vom »feudal-theologischen« zu einem »industriell-wissenschaftlichen« Staatsgefüge mit schweren Krisen verbunden war, ließen Saint-Simon jedoch die zu erwartenden Qualitäten der neuen Gesellschaft vorübergehende Entbehrungen gerechtfertigt erscheinen. Befriedigung individueller Bedürfnisse und Wohlstand für alle durch die Produktion nützlicher Güter verhießen ihm ein irdisches Paradies.
 
Ohne moralische Leitbilder konnte aber auch die neue Gesellschaft Saint-Simons nicht bestehen. Eine besonders beauftragte Klasse von Theoretikern sollte daher die tragende Ideologie schaffen, damit die überlieferten religiösen Ideen abgelöst werden würden. Intellektuelle Arbeit sollte wie überhaupt alle Arbeit der Wissenschaftler und Künstler von Wirtschaftsführern delegiert werden. Grundsätzlich ist der Staat Saint-Simons nicht demokratisch, sondern hierarchisch aufgebaut. An seiner Spitze steht zwar noch eine aristokratisch genannte Führungsgruppe, aristokratisch aber ist nun als Herrschaft einer produktiven Klasse über alle anderen Klassen zu verstehen: Der Industrielle ist jetzt der Aristokrat. Er sollte ein Mensch sein, der arbeitet, um zu produzieren oder um den verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft materielle Möglichkeiten anzubieten, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Ebenso besitzt der gesellschaftliche Mensch dieser Staatsutopie kein Privateigentum im herkömmlichen Sinne mehr, sondern er hat Nutzungsrechte an den Produkten, vor allem aber an den Produktionsmitteln. Die Nutzungsrechte wiederum werden zentral vergeben, und zwar mit der Absicht, daraus den größtmöglichen Nutzen für die Gesellschaft zu ziehen. Damit sollte sowohl der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wie auch der »Gleichmacherei« zeitgenössischer kommunistischer Theoretiker entgegengewirkt werden. Die Wirkung Saint-Simons blieb begrenzt. Nur wenige seiner Schüler bildeten eine Saint-Simonistische Schule, die sich bald auflöste und anderen Richtungen des vormarxschen Sozialismus Platz machte.
 
Charles Fourier steht für eine andere frühsozialistische Richtung. Seine Fantasien, die Ökonomie mithilfe der Sexualität und dem Luxus zur Aussöhnung zu bringen, blühten allerdings nur in seinem schriftstellerischen Werk auf. In seinem Leben - ob es der Wunsch war, in den Staatsdienst zu gelangen; ob als Makler, Handlungsreisender, Kassierer in einem Handelshaus; oder in seinen erotischen Beziehungen zu seinen Nichten - blieb Fourier vom Pech verfolgt.
 
Fundament seiner Theorie ist das Gesetz der Massenanziehung, dass bei ihm aber weitaus allgemeiner als das Gravitationsgesetz Isaac Newtons nicht nur die physikalische Materie, sondern auch die Affekte, das Triebleben, die Instinkte und sogar den Geschichtsverlauf bestimmen. Die Formulierung einer solchen allumfassenden Bewegungsgesetzlichkeit hatte die Berechenbarkeit gleichermaßen physischer wie sozialer Strukturen zum Ziel. Seine Attraktionstheorie, die auf der Vorstellung einer den gesamten unbelebten wie belebten Kosmos durchziehenden Anziehungskraft beruht, bleibt indes bei der Feststellung bestimmter Kombinationen von Grundtrieben stehen. Fourier errechnete die stattliche Anzahl von 810 Grundtrieben und fundamentalen Affekten, die in einer Art von genossenschaftlicher Vereinigung je zweimal vertreten sein müssten, damit ein affektives Gleichgewicht gewährleistet sei. Seiner Meinung nach hätten sich zum Beispiel in einer zwang- und gewaltfreien Gemeinschaft - etwa bereits während der ersten Periode der Menschheitsentwicklung - solche »Serien der Leidenschaft« durch freie Entfaltung der Triebe auf natürliche Weise ausgebildet. In einer »Phalanx«, wie Fourier dann seine genossenschaftlichen Zusammenschlüsse nennt, gibt es kein Privateigentum mehr, sondern nur noch Anteilseigner und leistungsabhängige Rendite. Es ist eine göttliche Ordnung, die sich Fourier aus der Natur heraus entwickelt denkt, und der er seine Gesellschaftsutopie angleichen will. Seine Theorie trägt ausgeprägt metaphysische und theologische Tendenzen, und ihr Scheitern beruht nicht nur auf der Unterdrückung durch Napoleon III., sondern vor allem auf ihrer Verkennung sozialer und ökonomischer Tatsachen.
 
Ein Zeitgenosse der genannten französischen Autoren war der englische Frühsozialist Robert Owen. Als Angestellter, später als Geschäftsführer und Miteigentümer der schwiegerväterlichen Baumwollspinnerei, kannte Owen die Zustände der industriellen Produktion aus nächster Nähe. Während ihm der Ausbau der Spinnerei zu einem Musterbetrieb hinsichtlich der Arbeiterfürsorge und der Erziehung von Arbeiterkindern mit beachtlichem Erfolg gelang, musste er bei dem Versuch, die sozialen Organisationsprinzipien seines Unternehmens auf die Gesellschaft zu übertragen und zu verallgemeinern, erkennen, dass der Sozialismus offenbar keine Zukunft hat. Zentrale Punkte seines Programms zur Reform der Gesellschaft - etwa das Verbot der Kinderarbeit, die Verkürzung der Arbeitszeit oder die Einrichtung einer Arbeitslosenversicherung - stießen auf Ablehnung. Gewerkschaftlicher Zusammenschluss der Arbeiter sowie sich selbst versorgende, nicht-kapitalistische Genossenschaftssiedlungen ließen sich vorerst in England nicht verwirklichen; auch ein dreijähriger Modellversuch in Amerika scheiterte. In seinen Schriften forderte Owen unermüdlich eine »neue moralische Welt«, die sich innerhalb der Grenzen der Freiheit der Individuen und der Anerkennung des Wohls der Gesellschaft bewegen solltte. Owen sah schließlich den Erfolg seiner Reformvorschläge abhängig von der Überwindung der Klassengegensätze.
 
Am radikalsten auf Abschaffung von Eigentum und Herrschaft ausgerichtet ist die Theorie des Franzosen Pierre Joseph Proudhon. Sein Buch »Qu'est-ce que la propriété?« (»Was ist Eigentum?«) und seine Antwort: »Eigentum ist Diebstahl!« erregten Aufsehen und brachten ihm gerichtliche Verfolgungen ein. 1846 veranlasste sein »Système des contradictions économiques ou Philosophie de la misère«, zu deutsch etwa »System der ökonomischen Widersprüche oder die Philosophie des Elends«, Karl Marx zu der polemischen Replik »Das Elend der Philosophie«. Proudhon hatte mit einer mehr oder weniger naturwüchsigen, vage an Hegel orientierten Dialektik nachzuweisen versucht, dass die Wirklichkeit des bürgerlichen Eigentums sich weniger auf eigene Arbeit oder gerechten Tausch stütze als vielmehr auf unberechtigte Aneignung fremder Arbeit, auf ungleichen Tausch und das Monopol der Produktionsmittelbesitzer. Metaphysische Prinzipien und Vorsehung zieht Proudhon heran, um die Autorität der Sozialwissenschaften und die Notwendigkeit sozialer Veränderungen zu begründen. Marx, der ihm in Paris vergeblich die Hegelsche Philosophie beizubringen versucht hatte, entwickelte in dieser Auseinandersetzung mit Proudhon seine Vorüberlegungen zur wissenschaftlichen Dialektik von Tauschwert und Gebrauchswert, denen später im ersten Band seines »Kapital« zentrale Bedeutung zukommen sollte.
 
Zwar sahen Marx und Engels in den frühsozialistischen Theorien eine entscheidende Etappe in der »Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, wie der Titel eines Buches von Friedrich Engels aus dem Jahre 1882 lautet. Vor allem das Engagement für die zahlenmäßig reichste aber sozial ärmste Klasse hob Engels an Saint-Simon, Fourier, Owen und Proudhon hervor. Insgesamt gingen ihm deren Lehren allerdings nicht über eine »Art Durchschnittssozialismus« hinaus.
 
Dr. Klaus-Jürgen Grün
 
 
Geschichte der Philosophie, herausgegeben von Wolfgang Röd. Band 10: Die Philosophie der Neuzeit, Teil 4. Positivismus, Sozialismus und Spiritualismus im 19. Jahrhundert. München 1984—89.
 Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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